Künstliche Welten werden in vielen therapeutischen Bereichen eingesetzt. Doch viele Neurologen halten das für ethisch fragwürdig.
Ein Straßenzug wie in den Fünfzigern, in den Schaufenstern der Geschäfte die Mode und Marken von einst. Aus einem Lokal hört man „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt“; das weckt Erinnerungen an früher. Szenenwechsel: eine Spinne. Schon spürt man sie über den Handrücken laufen, unangenehm, eklig, der persönliche Supergau. Oder auch das: Unangenehme Enge in einem Aufzug, zu viele Menschen auf kleinstem Raum, keine Möglichkeit auszusteigen. Mit Hilfe der Virtuellen Realität (VR) lassen sich schier unendlich viele Szenarien täuschend echt dreidimensional simulieren. Man braucht nur eine spezielle Brille, Handschuhe, die sensorische Reize vermitteln, und Kopfhörer für den Ton.
Die Technologie ermöglicht als Freizeitvergnügen das Eintauchen in die fantastischsten Welten, sie kann Wissenschaftlern zu Forschungszwecken dienen, Architekten bei der Planung helfen und wird in Flugsimulatoren genutzt, um Piloten zu trainieren. Doch auch in derMedizin und in Pflegeheimen kann Virtuelle Realität eingesetzt werden – eine Tatsache, die vermutlich weit weniger bekannt ist als die derzeit häufig thematisierte zunehmende Bedeutung der Künstlichen Intelligenz für Diagnostik und Therapie.
Virtuelle Reise ins Wirtschaftswunderland
Erkrankungen, bei denen die Anwendung von Virtueller Realität diskutiert oder zum Teil bereits erprobt wird, sind vor allem Phobien, Zwänge, Demenz, Schlaganfallfolgen, posttraumatische Belastungsstörungen, Essstörungen und das Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS). So startete zum Beispiel 2017 an einer Klinik in Krefeld ein Projekt mit dem Titel „Krefeld im Wirtschaftswunderland“, das Demenzkranke mit VR-Brillen in die Welt der 1950er Jahre versetzt.
Die Idee ist es, mit dieser Reise in die Vergangenheit bei den Patienten Erinnerungen und positive Gefühle hervorzurufen. Dahinter steht die Hoffnung, auf diese Weise den Krankheitsverlauf zumindest zu verlangsamen. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft findet diese Methode durchaus sinnvoll, hat aber auch bereits darauf hingewiesen, dass sie eher für Patienten in einem frühen Stadium der Erkrankung geeignet sei.
Lernen, mit der Angst umzugehen
Großes Potenzial wird der Virtuellen Realität auch in der Psychotherapie zugeschrieben. Am besten erforscht ist die Anwendung bei Phobien. Dafür werden angstauslösende Situationen, Tiere oder Objekte digital simuliert – und die Patienten dann in der Virtuellen Realität damit konfrontiert. Wer zum Beispiel Angst vor Hunden hat, trifft in der künstlichen Welt auf die Vierbeiner. Wer sich davor fürchtet, durch Tunnels zu fahren, muss genau das in der Virtuellen Realität aushalten. Die Idee dahinter: Frei vom extremen Stress, den eine tatsächliche Begegnung auslösen würde, sollen die Patienten unter therapeutischer Anleitung Strategien lernen, mit ihrer Angst umzugehen und sie bestenfalls zu überwinden.
Auch ein Einsatz der digitalen Helfer bei Essstörungen und anderen Suchterkrankungen würde auf einer solchen Konfrontation beruhen. Im einen Fall ginge es darum, die Abneigung gegen Essen zu überwinden, im anderen darum, beim Anblick von Alkohol oder Drogen der Versuchung zu widerstehen.
„Wie virtuelle Realität wirkt, ist kaum untersucht“
Die Virtuelle Realität – eine Bereicherung der therapeutischen Möglichkeiten also und das völlig ohne unerwünschte Nebenwirkungen? Nicht ganz. In einem Artikel, der im Fachjournal „Nature Medicine“ veröffentlich wurde, mahnen Wissenschaftler des Universitätsklinikums Freiburg gemeinsam mit Kollegen aus der Schweiz und den Niederlanden einen sensiblen Einsatz von Virtueller Realität in der Medizin und in der Pflege an.
Für die Wissenschaftler stellen sich dabei vor allem ethische Fragen. Zwar ließen sich „grundsätzlich“ mittels Virtueller Realität „positive Effekte erzielen“, sagt Philipp Kellmeyer, Neurologe an der Klinik für Neurochirurgie des Universitätsklinikums Freiburg und am Freiburg Institute of Advanced Studies. „Wie Virtuelle Realität kognitiv und emotional auf die Betroffenen wirkt, ist aber noch kaum untersucht“, gibt er zu bedenken. „Und die Grenze zwischen Realität und VR verschwindet immer mehr.“ Letztlich beruhten die therapeutischen Zwecke somit auf einer „Täuschung oder Illusion“. Ein weiterer Einwand des Neurologen lautet: „Die VR-Anwendung zielt auf eine Verhaltensänderung des Nutzers ab, der sich der Nutzer nicht entziehen kann.“ Dadurch, so Philipp Kellmeyer, sei die „autonome Entscheidungsfindung gefährdet“.
„Gravierender Eingriff in die Autonomie“ von Demenzkranken
Besonders kritisch sieht der Mediziner diesen Aspekt im Hinblick auf Menschen mit Demenz. Zwar räumt er ein, dass die Simulation einer früheren, vertrauten Umgebung auf Demenzkranke im Pflegeheim durchaus „beruhigend wirken“ könne. Allerdings stelle es auch einen „gravierenden Eingriff in ihre Autonomie“ dar, wenn diese Menschen „nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheiden“ könnten.
Ob das immer mit der Menschenwürde zu vereinbaren sei, erscheint dem Neurologen zumindest fraglich. Als kritisch bewertet Kellmeyer zudem den Effekt, dass Nutzer „emotionale Bindungen zu virtuellen Figuren“ aufbaue und diese als „vermeintlich reale Menschen“ wahrnehme. „Dies könnte einen sozialen Rückzug aus der realen Welt zur Folge haben“, befürchtet der Nerologe.
Kritiker: ethisch fragwürdiges Vorgehen
Auch für den Schweizer Demenzexperten Michael Schmieder ist das Vorgaukeln nur virtuell existenter Welten ethisch fragwürdig, wenn jene Menschen, die darin eintauchen sollen, nicht mehr in der Lage sind, die Täuschung als solche zu erkennen. Auf der Plattform „alzheimer.ch“ schreibt er: „Menschen mit Demenz absichtlich zu täuschen, um ihnen damit etwas, Gutes zu tun‘ ist meiner Meinung nach höchst problematisch, selbst wenn dies mit der ausschließlichen (?) Absicht geschieht, biographische Erinnerungen wieder zu beleben.“ Auch weist Schmieder darauf hin, dass Demenzkranke nicht nur in ihren Erinnerungen leben, „sondern immer auch im Hier und Jetzt“.
Die Autoren des Artikels in „Nature Medicine“ um den Freiburger Neurologen Kellmeyer lehnen Virtuelle Realität nicht grundsätzlich ab, auch nicht in der Pflege von Menschen mit Demenz. Künftig müssten Anwendungen jedoch stärker auf die Nutzer ausgerichtet und Patienten frühzeitig in die weitere Entwicklung mit einbezogen werden.
Quelle:
https://www.fr.de/wissen/virtuelle-realitaet-soll-demenz-erinnerungen-wecken-12975758.html
Bild: Experten sind skeptisch, ob das Vorgaukeln von Realitäten bei demenzkranken Menschen ethisch vertretbar ist. © Getty