Möchtet ihr in einer Welt leben, in der eine durch Technik erzeugte Illusion sich so sehr mit der Realität vermischt hat, dass es kaum mehr möglich ist zu sagen, wo der eine Bereich aufhört und der andere anfängt? Willkommen in der Hyper-Reality!
von CARMEN SCHATZ
Niemand von uns kann vorhersagen, was die Zukunft bringen wird. Wie wird sich unsere Gesellschaft weiterentwickeln? Welche technologischen Wunder erwarten uns noch? Und was wird aus unserer Umwelt? Wir wissen es einfach nicht genau. Trotzdem versuchen Experten immer wieder, möglichst akkurate Prognosen zu stellen. Manche davon sind wirklich beängstigend, während andere Grund zur Hoffnung geben. Auch wir möchten an dieser Stelle einen Blick in die Kristallkugel wagen. In diesem Artikel stellen wir euch ein weiteres Konzept der Zukunft vor. Ist es möglich? Ja. Wird es so kommen? Das wissen wir nicht. Ist es faszinierend oder hochgradig beängstigend? Diese Entscheidung möchten wir am Ende euch überlassen.
Hyper-Reality: Die Gegenwart der Technik
Das Lustige an alten Science-Fiction-Filmen ist immer wieder die Feststellung, dass es doch nicht so gekommen ist, wie die Drehbuchautoren sich das vor Jahrzehnten vorgestellt haben. Trotz ihrer oftmals revolutionären Ideen hinken viele Science-Fiction-Abenteuer hinter der Realität her. Wir kolonisieren zwar noch immer nicht den Weltraum und Zeitreisen sind auch nicht drin, aber denkt einmal einen Augenblick lang an unseren hoch technologisierten Alltag! Wir alle tragen kleine Devices mit uns herum, die uns jederzeit den Kontakt zu unseren Mitmenschen erlauben und uns mit allem Wissen versorgen, das wir benötigen (oder auch nicht). Wir können Musik hören wann und wo wir wollen, sehen Filme in ultra-HD-Auflösung und tragen wie CSI-Agenten coole Uhren mit mannigfaltigen Zusatzfunktionen. Die Drehbuchschreiber von damals wussten eben nicht, welche technischen Geräte noch entwickelt und zum Mainstream werden würden. Genauso wissen wir nicht, welche bahnbrechenden Erfindungen uns in der Zukunft noch erwarten werden. Aber wir können immerhin erahnen, wohin uns unsere aktuelle Technik noch führen könnte – und das ist mitten hinein in die Hyperrealität.
Hyper-Reality: Was ist das?
Die Hyper-Reality, wie wir sie euch in diesem Artikel präsentieren, ist ein Konzept des in London lebenden Filmregisseurs Keiichi Matsuda. Er stellt seine bunte Version der Zukunft in einem rund sechsminütigen Videoclip vor. In dieser Zukunft sind Realität und Virtualität zu einem fast unauflöslichen Konglomerat miteinander verschmolzen. Virtual Reality (VR), Augmented Reality (AR), permanenter Internetzugang und handliche, kleine Geräte (Wearables), die wie eine fortschrittlichere Variante der Google Glases funktionieren könnten, machen es möglich. Wenn man all diese Faktoren in einen Topf wirft und gut umrührt, dann ist das Ergebnis ziemlich… eindringlich. Aber macht euch selbst ein Bild:
Hyper-Reality: Bestandteile einer neuen Welt
Blinzelt zwei Mal und atmet tief durch. Was habt ihr da gerade gesehen? Ganz offensichtliche eine Welt, in der es keinen Adblocker mehr gibt. Aber davon abgesehen? Die Technik ist so tief in den Alltag eingedrungen, dass sie jede Erfahrung des Menschen durchdringt – aber dadurch auch vollkommen neues Potenzial mit sich bringt. In Keiichi Matsudas Zukunft liegt über jedem Aspekt des menschlichen Lebens ein technologischer Schleier. Vieles davon macht das Leben noch einfacher und praktischer, als es ohnehin schon ist. Ihr habt blinkende Wegmarkierungen direkt auf der Straße gesehen, Synchronübersetzungen von fremdsprachigen Telefonaten mitgelesen und seid wahrscheinlich generell von der Fülle an Informationen beinahe erschlagen worden. Personalisierter Kundendienst, geschlechtsspezifische Werbung (die sich beim Anfassen des Produkts ändert) und eingeblendete Randinformationen zum aktuellen Standort. Bunte Lichter und Farben überall, Bewegung und Reizüberflutung. In dem Moment, als der Schleier kurz fällt, erscheint die wirkliche Welt beinahe farblos, langsam und zahm, im Gegensatz zu dem bunten Kaleidoskop der Hyper-Reality. Aber die zahlreichen Anwendungsmöglichkeiten von AR sind nicht das Einzige, das uns in dieser Zukunftsprognose erwartet.
Hyper-Reality: Credit-Points
Das Credit-Point-System des Videos erinnert so manch einen von euch wahrscheinlich an ein Videospiel. Erlangt neue Errungenschaften, schaltet bestimmte Erfolge frei und werdet dafür mit Punkten belohnt. Kennt man ja. Wenn dieses Prinzip nun über das wirkliche Leben und den Alltag gestülpt wird, führt das allerdings zu völlig neuen Konsequenzen. Sofort ins Auge springt der hohe Grad an unauffälliger Manipulation, der dadurch möglich wird. Auf der Jagd nach Punkten sind Menschen motivierter, Dinge zu tun oder zu kaufen, die sie normalerweise vielleicht nicht in Erwägung ziehen würden. Das kann natürlich positiv sein, wenn es um Sport oder eine besonders gesunde Lebensweise geht, die durch die Credit-Points belohnt wird. In einer Welt des Kapitalismus und Konsumeifers könnte so ein System aber ganz schnell missbraucht werden. Daneben würde eine bislang unbekannte Art von Kriminalität entstehen – wie im Video gegen Ende des Clips gezeigt wird. In einer Welt, in der alles von den gesammelten Punkten abhängt und ein aktiver Lebensaccount notwendig für jeden noch so kleinen Lebensbereich ist, wird Accountdiebstahl zum Kapitalverbrechen.
Hyper-Reality: Eine wahrscheinliche Zukunft?
Wahrscheinlich ist, dass AR in Zukunft ein noch größeres Forschungsthema wird und dass uns hier noch einige spannende Anwendungen erwarten. Die Möglichkeit, die Realität mit virtuellen Daten aufzupeppen, hat einfach unglaublich viel Potential. Denkt nur an Pokémon Go oder die neue AR-Navigation von Google Maps. Außerdem wird der Markt der Wearables (VR-Brillen, Tracker-Uhren oder sogar Ganzkörperanzüge wie der Smartsuit oder der Teslasuit) mit Sicherheit sehr relevant werden, sobald all diese Technologie einen gewissen Standard erfüllt und für die breiten Bevölkerungsschichten erschwinglich wird. Aber führt all das zwangsläufig zu einer Hyper-Reality, wie ihr sie im Video gesehen habt? Manche Bereiche und Anwendungsmöglichkeiten scheinen jedenfalls sehr wahrscheinlich zu sein. Was wären die Chancen und Gefahren so einer Zukunft?
Chancen und Gefahren der Hyperrealität
Wie jede neue Technik (oder in diesem Fall die Verflechtung diverser Technologien) birgt auch die Welt der Hyper-Reality gewisse Risiken. Deshalb ist es bereits vorab wichtig, sich mit möglichen negativen Konsequenzen so einer Zukunft auseinanderzusetzen.
Hyper-Reality: Reizüberflutung oder Informationsquelle?
Wenn ihr euch den Videoclip angesehen habt, dann versteht ihr ganz schnell, was mit Reizüberflutung gemeint ist; überall blinken bunte Lichter, hunderte Dinge verlangen gleichzeitig nach Aufmerksamkeit, die gesamte Wahrnehmung ist angefüllt mit Informationen zu allem und jedem. Bereits heute ist die Reizüberflutung unserer Kinder und Jugendlichen ein beliebtes Jammer-Thema bei Eltern und manchen Forschern; mit der Hyper-Reality könnte dieses Problem auf die Spitze getrieben werden. Aber was ist überhaupt schlimm daran? Nun, Wissenschaftlern zufolge löst Reizüberflutung Stress, Hektik und aggressive Reaktionen aus. Außerdem neigen Menschen dazu, sich an ein gewisses Maß an ständigen Reizen zu gewöhnen – und wenn das so hoch liegt, sind sie irgendwann nicht mehr in der Lage, mit der Ruhe umzugehen oder können sich nicht mehr mit sich selbst beschäftigen. Andererseits liegt natürlich gerade in der Informationsdichte der Hyper-Reality ihre Anziehungskraft. Hier wäre wohl der Anwender selbst gefordert, für sich persönlich die perfekte Einstellung zu finden; ein Mittelmaß zwischen wertvollen, notwendigen Informationen und ein paar ganz persönlichen Lieblingsgadgets wäre ideal. Deshalb müsste es eine Möglichkeit geben, ungewollte Informationen auszublenden – ein Werbeblocker wäre wirklich sinnvoll.
Hyper-Reality: Ablenkung von realen Gefahren
Eine ganz reale Gefahr der Hyper-Reality liegt in ihrer Beeinträchtigung der generellen Umgebungswahrnehmung. Das Gehirn ist permanent gefordert, wichtige aus unwichtigen Informationen herauszufiltern. Das ist zwar ohnehin seine Aufgabe, aber bei dem immensen Informationszuwachs (und insbesondere den aufdringlicheren Reizen) ist das eine gewaltige Aufgabe. Dass das so ist zeigt ein Blick auf die modernen Straßen. In ihre Mobiltelefone vertiefte Smombies führen im Straßenverkehr ein gefährdetes Leben. Wohl deshalb gibt es in Keiichi Matsudas Hyper-Reality ein hohes Maß an Warnsignalen. Der Gehweg blinkt und weist darauf hin, die Straße freizumachen, die öffentlichen Verkehrsmittel teilen den Reisenden mit, dass es Zeit ist auszusteigen und ganz allgemein wirkt die Welt ziemlich idiotensicher. Eine simple Notwendigkeit oder ein weiterer Schritt in die Unmündigkeit des Menschen?
Hyper-Reality: Vereinsamung und Realitätsflucht?
Manch einer fragt sich vielleicht, wie es mit der sozialen Interaktion aussieht, wenn sich Virtualität und Realität in derart hohem Ausmaß miteinander vermischen. Werden wir noch genügend Sozialkontakte haben oder lebt jeder von uns in seiner eigenen kleinen Welt, umgeben von zahlreichen Fantasiebildern, die lediglich die Illusion echter Beziehungen erzeugen? Führen wir vielleicht ganz selbstverständlich Gespräche mit KI-Freunden, die so technologisch ausgereift sind, dass sich der Unterschied zu echten Menschen kaum mehr erkennen lässt? Werden wir irgendwann ganz selbstverständlich damit aufhören, zwischen „echt“ und „unecht“ zu unterscheiden, weil die beiden Bereiche derart verschränkt miteinander sind? Und was würde das aus uns machen?
Immer, wenn eine neue Technologie in das Alltagsleben der Menschen tritt, gibt es warnende Stimmen. Das war so, als das Lesen von Büchern zum Mainstream wurde. Später gab es zahlreiche Leute, die gegen den häufigen Konsum von Radio und Fernsehen auf die Barrikaden gestiegen sind. Von Computern oder Mobiltelefonen brauchen wir gar nicht erst anzufangen. Und genauso wird es zahlreiche Menschen geben, für die die Hyper-Reality eine ganz persönliche Horror-Vision darstellt. Aber nicht alles, was neu ist, ist deshalb gleich schlecht. Wie mit jeder neuen Erfindung ist auch hier ein sensibler Umgang notwendig, ein Sich-auseinandersetzen mit der Materie.
Was haltet ihr von der Prognose der Hyper-Reality? Wollt ihr in so einer Welt leben? Könnt ihr es kaum erwarten, von all den praktischen Funktionen zu profitieren? Oder fürchtet ihr euch vor so einer Zukunft und würdet sie lieber verhindert sehen? Schreibt es uns in die Kommentare!
Quelle:
https://www.buffed.de/Entertainment-Thema-237123/Specials/VR-augmented-reality-wearable-hyper-reality-1335781/