Mit VR können wir die Grenzen von Raum und Zeit sprengen und die Gesetze der Physik aushebeln. Doch dazu brauchen wir dringend mehr Entwickler und Menschen, die VR bekannter machen.
Von Claudia Kiani
Der Traum von einer virtuellen Realität begleitet uns Menschen schon eine ganze Weile. So wurde die erste VR-Brille bereits Ende der 1960er-Jahre entwickelt. Der Wissenschaftler Ivan Sutherland legte mit seinem „Sword of Damocles“ den Grundstein für die heutige VR-Brille. Ob mich die Drahtkonstruktion, die auf dem Kopf des Nutzers befestigt wurde, damals begeistert hätte? Das bezweifle ich. Denn das Nutzungserlebnis war aufgrund von geringer Rechenkapazität und Grafikleistung noch stark limitiert.
Das änderte sich erst mit der „Oculus Rift“. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich sie auf der Cebit 2014 zum ersten Mal aufsetzte. Ich wusste nicht so recht, was mich erwarten würde, aber dann, als mich diese Brille mit einem Mal in eine neue Umgebung katapultierte, war ich angefixt. So sehr, dass ich erst meine Masterthesis nutzte, um das Thema tiefer zu untersuchen, und anschließend eine Agentur gründete, in der ich nun mit vier Mitarbeiter*innen Tag für Tag daran arbeite, Reales virtuell erlebbar zu machen.
Eine unserer zentralen Aufgaben liegt aktuell darin, das Interesse für VR zu wecken, zu inspirieren und Berührungsängste abzubauen. Neben Techniker*innen brauchen wir dabei vor allem kreative Projektmanager*innen und Berater*innen.
Aufgrund der geringen Verbreitung von VR-Brillen werden derzeit die meisten unserer Projekte für den Computerbildschirm umgesetzt, aber ich bin überzeugt davon, dass sich dies mittel- bis langfristig ändern wird. Warum sollten wir uns damit zufriedengeben, durch ein Fenster in eine andere Welt zu blicken, wenn wir stattdessen hindurchtreten und an ihr teilnehmen können? Weshalb Inhalte in 2-D konsumieren, anstatt sie in 3-D direkt in unsere Lebenswelt zu integrieren und Informationen ganzheitlich zu verarbeiten?
Heißt das also, wir werden zukünftig all unsere Erfahrungen nur noch mithilfe einer VR-Brille sammeln? Nein, das denke ich nicht. Erst recht nicht mit den VR-Brillen, wie wir sie heute kennen. Um ehrlich zu sein, hält man es darunter kaum länger als eine Stunde aus. Dann wird es oft schweißtreibend und schwindelerregend. Bis die Brillen eine weite Verbreitung haben, wird es also noch eine ganze Weile dauern. Aber hey, erinnert ihr euch noch, wie unsere Handys in den 2000ern aussahen?
Wie Virtual Reality unsere Arbeitswelt verändern kann
Ich sehe Virtual Reality als ein weiteres Werkzeug, das uns dabei helfen kann, verschiedene Herausforderungen besser zu meistern. Mithilfe von VR können wir die Grenzen von Raum und Zeit sprengen – wenn es sein muss, sogar die Gesetze der Physik aushebeln. Warum also nicht in einem virtuellen Raum zusammenkommen, anstatt eine Geschäftsreise auf sich zu nehmen, die zudem noch die Umwelt belastet? Und das Ganze ohne Sorgen, sich irgendwo mit Corona zu infizieren!
Eine Konzernzentrale lässt sich mit VR noch vor Fertigstellung besichtigen, und mögliche Konstruktionsfehler können schon in der Planungsphase identifiziert werden. Statt Testmärkte aufzubauen, kann die Marktforschung ihre Studien in einer virtuellen und damit reproduzierbaren Umgebung durchführen. Auch Schulungen lassen sich in die virtuelle Realität verlegen, und angehende Ärzte können erste Handgriffe in unterschiedlichen Szenarien erlernen oder Konfrontationstherapien im geschützten virtuellen Raum umsetzen.
Mit Blick auf die Arbeitswelt bedeuten diese vielseitigen Einsatzmöglichkeiten aber vor allem, dass Virtual Reality zahlreiche spannende Aufgabengebiete mit zum Teil ganz unterschiedlichen Anforderungen schafft. Dabei wird die Nachfrage nach VR-Experten mit steigender Verbreitung sicherlich noch deutlich zunehmen.
Welche Skills braucht die virtuelle Welt?
Virtual Reality bietet heute schon viele Möglichkeiten, aber wir sind noch längst nicht am Ziel. VR-Brillen müssen günstiger, komfortabler und performanter werden. Auch auf inhaltlicher Seite gibt es noch verschiedene Herausforderungen, wie beispielsweise die Motion-Sickness zu beseitigen. Dass es für die Erstellung virtueller Welten Entwickler*innen und 3-D-Artist*innen braucht, liegt also auf der Hand.
Genauso sehr braucht es jedoch Menschen, die das Medium verstehen und Anforderungen in Konzepte übersetzen können. Dazu gehören zum Beispiel Marketer, die Wege finden, ihre VR-Inhalte zum Rezipienten zu bringen, solange die Verbreitung von VR-Brillen in deutschen Haushalten bei lediglich 10 Prozent liegt. Ein schönes Beispiel liefert hier das Staatstheater Augsburg, das während der Coronakrise kurzerhand Theateraufführungen auf der VR-Brille zu den Besuchern nach Hause brachte.
Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers prognostiziert VR bis 2023 ein jährliches Marktwachstum von fast 20 Prozent. Deshalb braucht es Unternehmer*innen und Mitarbeiter*innen, die sich mit neuen Technologien befassen und diese wirkungsvoll in eine Organisation implementieren und Arbeitsprozesse verbessern können. Aber auch kreative Köpfe, die wissen, wie sie die Aufmerksamkeit des Users lenken, Geschichten erzählen oder Spannung erzeugen.
Was braucht es noch, um seinen Weg in der Virtual-Reality-Branche zu machen? Ich bin überzeugt: Die Arbeit mit VR erfordert Neugier und auch Mut, Neues auszuprobieren. Denn sehr viel in der Branche funktioniert nach dem Prinzip „Trial and Error“. Es gibt erst wenige etablierte Standards, aber dafür unheimlich viel Raum, aktiv mitzugestalten. Virtual Reality lässt uns Hindernisse überwinden und die Perspektive wechseln. Dafür brauchen wir Impulse aus verschiedenen Fachrichtungen, möglichst mit unterschiedlichen Hintergründen, Ideen und Denkweisen.
Wie wichtig diese Diversität im Entwicklungsprozess sein kann, habe ich übrigens vergangenes Jahr bei einer VR-Anwendung erlebt: Eigentlich sollte sie per Sprachsteuerung funktionieren – doch leider reagierte sie nur auf männliche Stimmen.
Quelle:
Foto: Getty – Die Grenzen von Raum und Zeit sprengen – mit Virtual Reality wird das möglich