Augmented und Virtual Reality können bei Produktdesign, Fabrikeinrichtung und Remote-Support und anderem ortsunabhängig einen wichtigen Mehrwert bieten.
Extended Reality (XR) – ein Sammelbegriff, der Augmented Reality (AR) und Virtual Reality (VR) miteinschließt – gilt als einer der Megatrends der letzten Jahre. Doch die Geschichte dieser Technologien reicht erstaunlich weit zurück. So wurde der erste Prototyp von dem, was wir heute als AR-Datenbrille kennen, schon 1968 von dem Computerwissenschaftler Ivan Sullivan gebaut. Das Gerät, das aufgrund seiner überdimensionalen Größe „Sword of Damocles“, Damoklesschwert, getauft wurde, war zwar recht primitiv, denn es projizierte lediglich einen in der Luft schwebenden 3D-Würfel in den Raum, aber die Idee dahinter war visionär und bahnbrechend.
Seit dieser Erfindung haben die XR-Technologien einen langen Weg zurückgelegt und immer mehr Bereiche durchdrungen. Nachdem AR und VR großen Anklang in der Entertainment-Industrie gefunden hatten, setzten auch Unternehmen diese Technologien zunehmend ein, beispielsweise für Mitarbeiterschulungen oder Anlagenwartungen. Dennoch verlief die industrielle Adaption nach Einschätzung von Christoph Runde, Leiter des Kompetenznetzwerks für virtuelles Engineering Virtual Dimension Center (VDC), schleppend. Das Bewusstsein hinsichtlich der Einsatzmöglichkeiten sei gering gewesen. „Das hat sich nun schlagartig geändert“, so der Experte.
Für diesen Aufschwung sorgten nicht zuletzt die weltweiten Lockdowns infolge der Corona-Pandemie. Denn vor allem im Zusammenhang mit den Reiseeinschränkungen richtete sich der Fokus der Unternehmen auf einen ganz speziellen Einsatzbereich für AR und VR – Remote Collaboration. Laut Evelyn Weinert, Strategic Design & Communication bei imsys immersive systems, einem Anbieter von Advanced-Visualization-Lösungen, ist dieses stark gestiegene Interesse eine klare Folge der neuen Herausforderungen, denen sich viele Unternehmen 2020 gegenübersahen: „Die Teamdynamik stagnierte und entgegen der erwarteten Zeiteinsparung durch den Wegfall von Reisezeit verkomplizierten und verlangsamten sich Entwicklungs- und Lernprozesse deutlich.“
Nach Ansicht von Weinert können über XR viele Verständnis- und Kommunikationslücken geschlossen werden und gerade deshalb seien die XR-Technologien stark in den Mittelpunkt gerückt. Doch was macht die XR-basierte Zusammenarbeit gegenüber anderen Collaboration-Möglichkeiten so besonders?
Sieh das, was ich sehe
Die zunehmende Globalisierung hat die Fernzusammenarbeit längst unabdingbar gemacht. Während sich Telefon- und Videokonferenzen jedoch bereits als gängige und durchaus geeignete Alternative zu Präsenz-Meetings etabliert haben, sieht es in den Bereichen, die mehr Interaktivität erfordern, wie zum Beispiel beim Produktdesign oder bei der Einrichtung von Fabrikanlagen, noch ganz anders aus. „Bei Telefon- und Videokonferenzen fehlt der räumliche Eindruck und das Gefühl, gemeinsam vor dem Designobjekt zu stehen; in einer Videokonferenz ist man statisch an die Kamera gebunden“, erklärt Thomas Unterluggauer, Creative Manager CGI beim Kia Design Center Europe.
Solche räumlichen Einschränkungen stellen nicht nur im Designbereich eine besondere Herausforderung dar. Vor allem bei der Wartung oder Einrichtung von komplexen Maschinen und Geräten sind die gängigen Konferenz-Tools ungeeignet, die Informationen im selben Umfang zu vermitteln, wie es bei einer Begegnung vor Ort möglich wäre. Der Grund dafür ist, dass Videokonferenzen grundsätzlich stärker für Präsentations- und Vortragszwecke als für Collaboration ausgelegt sind. Zwar können die Anwender an einer Diskussion teilnehmen, aber eine natürliche und vor allem unmittelbare Interaktion mit Inhalten fehlt bei den meisten Konferenz-Tools.
„Im Gegensatz dazu bewegt man sich bei einer XR-Konferenz ständig um das Designobjekt, um es aus möglichst vielen Blickwinkeln zu betrachten und zu bewerten“, so Thomas Unterluggauer weiter. Außerdem zeichnen sich die XR-Technologien durch das Prinzip „See What I See“ aus – also „Sieh das, was ich sehe“.
Die Teilnehmer, die sich weit entfernt voneinander befinden, können dank des geteilten Sichtfelds trotzdem genau und in Echtzeit die Objekte sehen, auf die ihre Kollegen vor Ort ihre Blicke gerade richten: „Der Vorteil ist, dass man wirklich ‚Hands-on‘ arbeiten kann“, betont Jörg Schmitt, Projektmanager Engineering bei Nestlé Deutschland. „Mit Augmented Reality und Virtual Reality kann man aus der Ferne die Aufgabe visualisieren und dann mit den Kolleginnen und Kollegen vor Ort angehen.“
Beide Experten haben diese Erfahrungen mit XR aus erster Hand gemacht. Bei Nestlé wird zum Beispiel die AR-Technologie beim Remote-Support an den Produktions- und Forschungsstandorten eingesetzt. Mithilfe von unterschiedlichen Tools unterstützen die Unternehmensspezialisten ihre Kollegen an den jeweiligen entfernten Standorten bei komplexen Aufgaben, beispielsweise bei der Einrichtung oder Neugestaltung von Fabrikanlagen oder bei der Überprüfung neuer Maschinen bei den Lieferanten. „Die Kombination aus Hard- und Software macht’s – mit Smart-Brillen, 360-Grad-Kameras und mehr, kombiniert mit cleverer Software, wirkt es fast so, als ob man mit in der Fabrik steht“, so Jörg Schmitt.
Kia Motors Europe setzt dagegen beim Design von Automodellen auf die VR-Technologie. Dies ermöglicht es nicht nur, einen realistischen Eindruck von einem Auto zu bekommen, sondern gerade auch trotz der Pandemie weiterhin mit den anderen Studios weltweit zusammenzuarbeiten. Die Produktdesigner können auf diese Weise ein virtuelles Modell direkt mit einem physischen Modell, das im selben Raum steht, vergleichen und umgehend Anpassungen vornehmen oder ihr Feedback geben. „Die Möglichkeit, das virtuelle Modell in gewohnter Umgebung – unserer Präsentationshalle – betrachten zu können, ist von großem Vorteil. In einer rein virtuellen Darstellung fehlt der Bezug zur Realität“, ergänzt Kia-Motors-Creative-Manager Unterluggauer.
Nachhaltigkeit
Das Konzept der XR-basierten Zusammenarbeit mag manchen noch als zu futuristisch oder nur durch die Pandemie getrieben erscheinen. Doch eigentlich kennen wir die verteilte Kooperation mittels VR bereits seit den frühen 1990er-Jahren, erklärt VDC-Leiter Christoph Runde. Als Beispiele nennt er unter anderem den auch verteilt spielbaren 3D-Ego-Shooter „Doom“ aus dem Jahr 1993 und COVISE, eine VR-Umgebung zur verteilten Bearbeitung wissenschaftlicher 3D-Simulationen, die vom Stuttgarter Höchstleistungsrechenzentrum HLRS Mitte der 1990er-Jahre herausgebracht wurde. „Viele der Technologien, die man benötigt, um verteilt in 3D-Umgebungen arbeiten zu können, liegen also seit Langem vor“, betont Runde.
Auch Nestlé und Kia Motors beschäftigen sich bereits seit einiger Zeit mit dem Thema XR-basierte Collaboration. „Wir haben schon vor der Covid-19-Pandemie begonnen, AR-Technologie einzusetzen. Der Einsatz hat sich dann unter Covid natürlich stark beschleunigt“, sagt Jörg Schmitt. Das Designteam von Kia Motors arbeitet mit den Kollegen in Korea ebenfalls schon seit Längerem in VR zusammen.
Der Grund für das allgemein wachsende Interesse der Unternehmen am Thema XR-gestützte Remote Collaboration mag zudem an einem weiteren Vorteil dieser Form der Zusammenarbeit liegen, nämlich dem Wegfall von langen Geschäftsreisen, die sonst viel Zeit und Geld kosten. Kia Motors zufolge musste beispielsweise das Design-Management-Team nach Südkorea fliegen, um die Designmodelle mit den Kollegen vor Ort zu besprechen. Aufgrund der Reisezeiten hin und zurück habe ein solcher Einsatz meist mehrere Tage in Anspruch genommen, erzählt Thomas Unterluggauer: „Heute kann ein Meeting bei ausreichender Vorbereitung in kürzester Zeit durchgeführt werden.“
Eine ähnlich positive Erfahrung mit der XR-basierten Zusammenarbeit haben die Forschungs- und Entwicklungsteams von Nestlé gemacht, als sie ihre Kollegen in einer Fabrik für Milchgetränke in Navanakorn, Thailand, bei der Erneuerung bestehender und der Installation neuer Produktionslinien aus der Ferne unterstützt haben. „Unsere Expertinnen und Experten können gleichzeitig an mehreren Projekten arbeiten und haben sofort alle Ressourcen zur Hand“, fasst Nestlé-Projektmanager Schmitt zusammen. „Wir haben gesehen, dass wir damit schneller arbeiten können.“ Und in der Tat wurde die Fabrik in Navanakorn dadurch sogar vorzeitig fertiggestellt – trotz Covid-19.
Die Technologie ist reif genug
Auch wenn die verstärkte Beschäftigung der Unternehmen mit dem Thema XR-basierte Zusammenarbeit teilweise eher aus der Not geboren als gezielt geplant wurde, bieten die aktuellen technologischen Entwicklungen gerade im Bereich virtuelle Collaboration heute mehr denn je enorme Möglichkeiten.
„Eine Reihe technologischer Trends wie 5G, KI, Sensorik zur Erfassung der Teilnehmer – Blick, Gestik und Mimik – spielen diesem Trend in die Karten“, bestätigt VDC-Leiter Christoph Runde. So wird neben immer anspruchsvolleren XR-Controllern, die das Tracking und Übersetzen von Handbewegungen mit wenig oder überhaupt keiner Zeitverzögerung ermöglichen, zunehmend an den ausgefeilten Gestenerkennungs- und Hand-Tracking-Systemen durch die in Datenbrillen eingebauten Kameras gearbeitet.
Auch die sogenannten Datenhandschuhe, die ein haptisches Feedback geben können, stellen eine vielversprechende Lösung dar. „Die Tatsache, dass man seine eigenen Hände sehen kann, lassen reale und virtuelle Welten miteinander verschmelzen“, betont Thomas Unterluggauer von Kia.
Nicht zu unterschätzen sind darüber hinaus die immer vielfältigeren Möglichkeiten zum Erstellen von Avataren. Diese ermöglichen es, die Kommunikation auch auf der nonverbalen Ebene – etwas, was bei einer Videokonferenz kaum vorhanden ist – bis zu einem gewissen Grad zu unterstützen. Die modernen Avatartypen reichen von unpersönlichen Animationen bis hin zu Ganzkörperavataren, für die als Basis die Fotos der echten Nutzer verwendet werden.
Auch die Head-mounted Displays (HMDs), die das Kernelement des Equipments für die Arbeit in den verteilten Umgebungen bilden, sind inzwischen deutlich leichter und komfortabler, gleichzeitig aber leistungsstärker geworden, um sehr realistische Erfahrungen in einer virtuellen Umgebung zu erzeugen. Diese Kombination der technologischen Entwicklungen führt zu einer breiteren Akzeptanz der neuen Art der Zusammenarbeit. „Wir haben sehr lange auf die Implementierung einer Collaboration-Möglichkeit in VR gewartet“, sagt Thomas Unterluggauer. „Umso überraschender war dann der erste Einsatz und die Erkenntnis, wie intuitiv und selbstverständlich eine Collaboration funktioniert.“
Fazit & Ausblick
Zwar war der Einsatz von XR-Technologien zur Unterstützung der Zusammenarbeit auch vor der Corona-Pandemie schon ein viel diskutiertes Thema, doch hat das Jahr 2020 die Umsetzung zweifelsohne stark beschleunigt. „In jedem realen Raum ermöglichen XR-Technologien heute, bewegte Maschinen im 1:1-Format zu sehen, zu analysieren und ortsunabhängig mit Kollegen zu besprechen“, unterstreicht die IMSYS-Expertin Evelyn Weinert.
Produktdesign, Fabrikeinrichtung und Remote-Support sind dabei nur einige der Anwendungsfelder, in denen der Einsatz von VR und AR die Zusammenarbeit über räumliche Distanzen hinweg wirksam unterstützen kann. Aus der Sicht von Christoph Runde sind die XR-Technologien grundsätzlich dann sinnvoll einsetzbar, wenn komplexe, räumlich-geometrische Aufgaben vorliegen, die von mehreren Standorten aus gemeinsam bearbeitet werden sollen. Demnach kämen die unterschiedlichsten Bereiche infrage: „Relevante 3D-Aufgabenstellungen finden wir sicher in den Branchen Fahrzeug-, Maschinen- und Anlagenbau, im Bauwesen, in der Medizin und in der Bildung“, so die Einschätzung des VDC-Experten, „aber auch Elektrotechnik, Textil, Bergbau, Handel und Handwerk bieten interessante Optionen.“
Selbstverständlich ist eine XR-basierte Zusammenarbeit kein vollständiger Ersatz für die persönliche Interaktion. „Was wirklich bei XR wie auch bei regulären Videokonferenzen fehlt, ist das Miteinander, das Teambuilding, wenn man wirklich vor Ort ist“, betont Jörg Schmitt von Nestlé. Doch wenn es um reine Kompetenzentwicklung und Wissensvermittlung geht, dann kann die XR-basierte Kommunikation ähnlich effektiv sein wie ein persönliches Gespräch. So lautete das Ergebnis einer 2018 veröffentlichten Studie des Instituts für Psychologie der Universität Greifswald, bei der die Messung der Kommunikationsqualität über Distanzen hinweg unter dem Einsatz von Datenbrillen im Mittelpunkt stand. „Für uns ist klar, dass wir diese und andere Technologien auch in Zukunft vermehrt einsetzen werden. Das macht geschäftlich und auch für die Umwelt Sinn“, unterstreicht Schmitt.
Eines ist sicher: Wie stehen erst am Anfang der dynamischen Entwicklung von Technologien, deren Potenzial wir gerade zu entdecken beginnen. Christoph Runde bringt es auf den Punkt: „Wir müssen darauf achten, nachhaltige Verwendungen in der Industrie zu implementieren und nach der Pandemie nicht einfach in vor-pandemische Denkmuster zurückzufallen.“
Beispiele für XR-Collaboration
- Gemeinsame 3D-Reviews, zum Beispiel bei Konstruktion, Design oder Fabrikplanung
- Marketinganwendungen, zum Beispiel für Kundenpräsentation, 3D-Konfiguration, virtuelle Abnahme
- Trainingsanwendungen
- Logistische Anwendungen, auch Navigation
- Assistenzsysteme, zum Beispiel im Service
*Olga Annenko ist Tech-Enthusiastin, Kommunikationsspezialistin und unabhängige Tech-Contributorin. Sie begeistert sich für die Themen rund um innovative Technologien, neue Entwicklungen in der digitalen Welt und wie sich diese auf das traditionelle Geschäft auswirken. Sie mag es besonders, neue Trends aufzuspüren und bekannte Themen in einem anderen Blickwinkel zu präsentieren.
Quelle:
Foto: Seit dieser Erfindung haben die XR-Technologien einen langen Weg zurückgelegt und immer mehr Bereiche durchdrungen (c) pixabay.com