Apps, Virtual Reality und KI machen das Lernen personalisierter und flexibler. In Pandemie-Zeiten wächst der Markt. Doch auch die Grenzen werden sichtbar.
Lernen in Zeiten der Pandemie kann eine einsame Angelegenheit sein. Hochschulen in ganz Europa mussten zum Schutz vor dem Virus Hörsäle und Seminarräume schließen. Doch das gilt nicht allerorts: Im September 2020, als gerade die zweite Corona-Welle anrollte, hat die französische Wirtschaftshochschule Neoma ihren vierten Campus eröffnet.
Hier wirkt vieles wie früher: Auf dem Weg ins Seminar bekannte Gesichter sehen, im dicht besetzten Hörsaal mit den Sitznachbarn plaudern, sich mit Kommilitonen in einem der modernen Arbeitsräume zur Gruppenarbeit treffen und abends zum Networking in ein Livekonzert oder eine Ausstellung gehen – für den Managementnachwuchs an der Neoma kein Problem.
Dabei haben weder etwa ein paar unbeugsame Gallier einen Zaubertrank erfunden, noch liegt der neue Campus auf einer einsamen Insel fernab des Infektionsgeschehens – obwohl Letzteres der Realität schon recht nahe kommt. Denn der moderne Gebäudekomplex mit 85 unterschiedlichen Räumen existiert nur virtuell, als digitale Lernwelt im Netz.
Professoren, Mitarbeiter sowie rund 9000 Studierende aus aller Welt können sie jederzeit in Gestalt ihres persönlichen Avatars betreten, live an Veranstaltungen teilnehmen oder sich zum Lernen mit Kommilitonen verabreden. Sämtliche digitalen Räume sind mit interaktiven Wandbildschirmen ausgestattet, die sich für Gruppenarbeiten, Präsentationen oder Videokonferenzen mit den heimischen Rechnern verbinden lassen.
Die Pandemie hat dem Markt für Educational Technology, kurz Edtech, einen kräftigen Entwicklungsschub verpasst. Zahlen des Marktforschungsunternehmens Holon IQ zufolge flossen allein 2020 weltweit mehr als 16 Milliarden Dollar Risikokapital in innovative Lernlösungen und Geschäftsmodelle – mehr als doppelt so viel wie in den beiden Jahren zuvor.
Digitale Lernplattformen wie Coursera, Udemy oder Udacity zählen mittlerweile zu den sogenannten Einhörnern; das sind junge Technologieunternehmen, die von internationalen Investoren mit einer Milliarde Dollar oder mehr bewertet werden.
Auch Deutschland hat mit Unternehmen wie Babbel, Careerfoundry, Lecturio oder Masterplan erfolgreiche Start-ups im Bereich digitales Lernen hervorgebracht. Das Institut für Innovation und Technik (IIT) zählte in den vergangenen zehn Jahren knapp 1300 Edtech-Gründungen in Europa, davon mehr als 100 hierzulande.
Für die französische Hochschule Neoma ist die bunte Lernwelt weit mehr als eine Notlösung zur Überbrückung der Pandemie – sie ist vielmehr ein wichtiger Bestandteil ihrer digitalen Transformationsstrategie. An den Standorten Rouen, Reims und Paris und jetzt auch auf dem virtuellen Campus bietet die private Hochschule verschiedene Voll- oder Teilzeitprogramme an, darunter ein berufsbegleitendes Managementstudium zum Master of Business Administration (MBA).
Sich als Avatar durch eine Computerlandschaft zu bewegen, sei zwar nicht das echte Leben, gibt Alain Goudey zu, der Chief Digital Officer der privaten französischen Business-School. Dennoch fühlten sich das soziale Miteinander und die persönliche Interaktion erstaunlich real an. „Das Tool erzeugt ein Gefühl von Präsenz und Gemeinschaft, das weit über eine Videokonferenz hinausgeht.“
Gerade internationale und berufstätige Studierende nutzten die virtuelle Welt regelmäßig, um ohne aufwendige Anreise gemeinsam zu lernen oder digitale Veranstaltungen zu organisieren, so Goudey. Die Investition in den „Neubau aus Bits und Bytes“ werde sich langfristig rechnen, ist sich der Professor für Marketing und Digitale Transformation sicher: „Studenten lernen heute anders als vor 30 Jahren, Bildungsangebote müssen sich weiterentwickeln.“ Das sei auch vor Corona schon so gewesen. Die Pandemie habe die Entwicklung lediglich beschleunigt.
Educational Technology werde die Aus- und Weiterbildung sowohl an Hochschulen als auch in Unternehmen grundlegend verändern, ist Svenia Busson überzeugt. Mit ihrem Thinktank Edtech Tours beobachtet die Deutsch-Französin die digitale Weiterbildungsbranche, mit ihrem in Paris ansässigen Unternehmen Learnspace unterstützt sie europäische Start-ups und berät Unternehmen und Hochschulen beim Einsatz digitaler Tools.
Edtech habe auch jenseits von Lockdown und Reisebeschränkungen Vorteile, meint Busson. So ermöglichten Big Data und Künstliche Intelligenz (KI) personalisiertes Lernen mit Inhalten aus dem beruflichen Kontext. Virtual und Augmented Reality (VR und AR) erlaubten experimentelles Erfahrungslernen – ohne dass ein Fehler gleich schwerwiegende Konsequenzen habe: So könnten etwa eine riskante Reparatur oder das Führen in Krisensituationen in einer virtuellen Simulation gefahrlos geübt werden. Auch Zusammenarbeit über große Distanzen sowie die Nutzung kollektiven Wissens ließen sich durch innovative Apps und Plattformen optimieren.
Vom Zoom-Meeting bis zum legendären Holodeck aus der Star-Trek-Serie ist es zwar noch ein weiter Weg, doch Projekte wie der virtuelle Neoma-Campus bringen den Cyberspace dem realen und sozialen Lernerlebnis schon ein ganzes Stück näher. Mit seinem virtuellen Ich sei man zur selben Zeit am selben Ort wie andere und könne spontan interagieren, erklärt Professor Goudey.
So wie die französische Business-School haben auch Hochschulen in anderen Ländern jüngst massiv in die technische Ausstattung investiert mit dem Ziel, dauerhaft einen hybriden Lehrbetrieb zu ermöglichen. Einige Studenten live im Hörsaal, andere virtuell zugeschaltet – so werden auch nach dem Ende der Pandemie ganz normale Vorlesungen aussehen.
So hat die European School of Management and Technology (ESMT) in Berlin 400.000 Euro in die Umrüstung von drei Hörsälen zu hybriden Lehrräumen mit modernster Audio- und Videotechnik investiert. „Wir sind überzeugt, dass der Bedarf an Remote-Teilnahmen an Veranstaltungen auch nach der Pandemie hoch sein wird“, sagt Geschäftsführer Georg Garlichs. „Egal ob als reines Online- oder als Hybridformat.“
Die nächste Bildungsdebatte
Eine Einschätzung, die Bildungsforscher, Weiterbildungsanbieter und Unternehmen weitgehend teilen – auch wenn einige Bedenken anmelden. In der beruflichen Weiterbildung müssten zum Teil praktische Fertigkeiten geübt werden, zudem habe man es oft mit sehr heterogenen Gruppen zu tun, sagt etwa Andreas Groß, Professor an der Fraunhofer Academy in Bremen. Hier stießen Onlineformate schnell an ihre Grenzen. „In puncto Interaktivität und Flexibilität sind Präsenzformate für mich unschlagbar.“
Zudem sei es sinnlos, nur auf Technologie allein zu setzen. „Wenn Sie nicht in die Menschen investieren, die die Technik verwenden, kann und wird nichts Qualitatives passieren“, sagt auch Edtech-Expertin Busson. Denn auch digitales Lernen müsse erlernt werden.
Ähnlich sieht das Matthias Waldkirch von der EBS Universität. Mit einer Forschungsarbeit hat er die Entwicklung digitaler Formate an der privaten Hochschule für Wirtschaft und Recht ein Jahr lang wissenschaftlich begleitet. Wie jedes Handwerk erfordere auch die digitale Lehre Zeit, Übung und regelmäßige Reflexion, sagt der Professor für Entrepreneurship und Innovation.
So gesehen habe die Pandemie auch ihr Gutes: „Dank Covid diskutieren wir endlich mal wieder darüber, was gute Lehre ausmacht.“ Egal ob virtuell oder in Präsenz.
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Virtueller Neoma-Campus
Der Gebäudekomplex mit 85 unterschiedlichen Räumen existiert nur als digitale Lernwelt im Netz.(Foto: Neoma)