Polizeifachkräfte aus mehreren europäischen Ländern spielen diverse Gefahrenszenarien in einer VR-Inszenierung durch.
Ein gewalttätiger und aggressiver Mann läuft auf eine Polizistin zu. In seiner Hand hält er ein Messer, das er ihr entgegenstreckt. Er nähert sich ihr unaufhaltsam, Meter für Meter. Die Beamtin muss schnell entscheiden: Waffe ziehen oder nicht?
Jeden Tag sehen sich Polizistinnen und Polizisten in ganz Europa mit extremen Stresssituationen und Bedrohungen konfrontiert, in denen sie in Sekundenschnelle reagieren und die richtige Entscheidung treffen müssen. Nicht zuletzt nach dem Terroranschlag in Wien 2020 und zahlreichen Einsätzen im Umfeld der organisierten Kriminalität, haben sich die Anforderungen an österreichische Beamt*innen außerdem zunehmend geändert.
„Trainiert werden Straßenpolizisten, die in ihrem täglichen Berufsalltag plötzlich in eine kritische Situation kommen“
Helmut Schrom-Feiertag, AIT Center for Technology Experience
Virtuelle Gewalt
Um in Zukunft noch besser auf bedrohliche Situationen reagieren zu können, trainieren Polizeifachkräfte in mehreren europäischen Ländern heute in der virtuellen Realität (VR). Im Rahmen des Forschungsprojekts „Shotpros“ hat das AIT Center for Technology Experience ein innovatives VR-gestütztes Trainingsprogramm mitentwickelt. „Trainiert werden Straßenpolizisten, die in ihrem täglichen Berufsalltag plötzlich in eine kritische Situation kommen“, sagt der AIT-Projektleiter Helmut Schrom-Feiertag der futurezone. Dabei werden unterschiedliche Szenarien durchgespielt – etwa ein Banküberfall mit Geiselnahme, eine Fahrzeugentführung oder häusliche Gewalt.
Als Gewaltdarsteller kommen entweder virtuelle Avatare für einfachere Situationen oder ein Trainer zum Einsatz, der als VR-Rollenspieler fungiert. „Der kann schon reaktiver sein und aus seiner Erfahrung heraus die Situation mehr oder weniger eskalieren lassen“, sagt der Fachmann. Die Handlungsstränge werden in unterschiedlichen virtuellen Umgebungen auf einer Trainingsfläche von 70 mal 100 Meter realisiert. In dieser Trainingsumgebung können bis zu 10 Personen gleichzeitig teilnehmen.
Sensoren an Körper
Sie sind unter anderem mit einer VR-Brille, einer Waffe, einer Taschenlampe und Handschellen ausgerüstet – „Dinge, die sie auch im Alltag zur Verfügung haben“, sagt der Experte. Über ihrer Kleidung tragen sie einen Anzug mit Sensoren an Armen und Beinen. So können ihre Bewegungen getrackt und im Nachgang analysiert werden.
Zusätzlich wird der Stresspegel der Teilnehmer*innen überwacht. Laut Schrom-Feiertag soll dieser im Zuge der Übung erhöht werden. So erhält man Aufschluss darüber, ab welchem Level ein Beamter oder eine Beamtin nicht mehr agiert, sondern nur noch reagiert. „Je öfter jemand diese Situationen trainiert, desto bewusster tritt er auf und desto widerstandsfähiger wird er gegenüber diesem Stress und diesen Faktoren“, sagt der Experte.
Im Anschluss wird die Situation mit den Trainer*innen detailliert analysiert und besprochen. Wie bei einem 3D-Game kann man auf „Pause“ oder „Wiederholen“ drücken und sogar die Perspektive ändern. Auch kann man in ein bestimmtes Zeitfenster springen, etwa als die Handschellen angelegt wurden oder ein Schuss abgegeben wurde. Am Bildschirm ist dann einsehbar, ob eine Beamtin oder ein Beamter im Zuge einer Messerattacke die Schusswaffe zu früh oder zu spät gezogen hat und ob es auch Alternativen gegeben hätte. „Es wird deutlich ersichtlich, was ein Beamter falsch gemacht hat und verbessern kann.“ Primär gehe es darum, die Situation richtig einzuordnen und das Verhalten richtig zu setzen – der Fokus liege auf Deeskalation.
„Um Immersion und Realismus zu steigern, versuchen wir neben der visuellen und akustischen Ebene auch andere Sinne anzusprechen, etwa Geruch“
Helmut Schrom-Feiertag, AIT Center for Technology Experience
Zusätzliche Effekte
Die sichere Umgebung ermöglicht mehrere Wiederholungen einer Einsatzsituation, sodass die Leistungsfähigkeit der Sicherheitsbeamt*innen nach und nach gesteigert werden kann. Das VR-Training wurde mit über 800 Fachkräften mit unterschiedlicher Berufserfahrung aus ganz Europa getestet und wird vom technischen Projektpartner RE-liON anhand des Feedbacks der Behörden kontinuierlich angepasst und verbessert.
„Um Immersion und Realismus zu steigern, versuchen wir neben der visuellen und akustischen Ebene auch andere Sinne anzusprechen, etwa Geruch“, so der Fachmann. Bei einer Schussabgabe rieche es dann nach Schmauch. Ein weiterer Aspekt sei der Schmerz. Durch Vibrationen oder einen elektrischen Impulsgeber als Gurt oder Armband könne ein haptisches Feedback erzeugt werden. „Wir wollen uns anschauen, ob es reicht, an irgendeiner Stelle Impulse zu setzen oder ob sie relativ realistisch dort erzeugt werden müssen, wo beispielsweise eine Kugel eintrifft“, sagt Schrom-Feiertag. Die VR-Übungen seien eine gute Erweiterung des herkömmlichen Trainings, jedoch kein Ersatz.
Gestartet wurde das Forschungsprojekt 2019. Insgesamt 13 Projektpartner – darunter namhafte europäische Forschungseinrichtungen, Unternehmen und sechs Polizeibehörden – werden die VR-Lösung in den kommenden Jahren weiterentwickeln. Im Februar ist geplant, die Entwicklung in den Partnerländern Österreich, Deutschland, den Niederlanden, Belgien und Rumänien vorzustellen.
Inszenierte Rettungseinsätze für den Ernstfall trainieren
Sanitäter*innen müssen im Zuge ihrer Rettungseinsätze bei Autounfällen, Hausbränden oder Gewaltdelikten schnell reagieren und dabei Ruhe bewahren. Damit das gelingt und die Einsätze im Ernstfall störungsfrei ablaufen können, müssen bestimmte Szenarien geübt werden. Das lässt sich besonders gut in der virtuellen Realität (VR) realisieren.
Dieser machen sich Forschende an der TH Köln zunutze: Im Rahmen des Projekts „Kollaboratives Virtual Reality Trainingssystem für Rettungskräfte“ (KoViTReK)entwickeln sie eine VR-Lösung, mit der unterschiedliche Rettungseinsätze trainiert werden können.
VR-Brille und Kopfhörer
Die Konzeption basiert auf 2 Anwendungsfällen: einem Hausbrand und einem Stromausfall in einem Spital. An dem VR-Training sollen mehrere Personen gleichzeitig teilnehmen können. Ausgestattet werden sie mit einer VR-Brille, Kopfhörern und ihrer gewöhnlichen Schutzbekleidung.
Um Immersion und Realität im VR-Training zu steigern, wollen die Forscher*innen neben Audio-Effekten auch visuelle Effekte wie etwa die Lichtausbreitung bei einem Brand oder Rauch in die Lösung integrieren. Um zudem den Lernerfolg zu steigern, soll diese reale Inszenierung wie bei einem echten Einsatz bei den Rettungseinsatzkräften Stress auslösen. Ziel ist es, zu erforschen, ob ein solches System den Rettungseinsatzkräften künftig dabei unterstützen kann, sich besser auf diese Stresssituationen vorzubereiten.
Quelle