KI-SPRACHMODELLE IN DER LEHRE. EXKLUSIVER ARTIKEL AUS UNSERER DNH 3|2024
Ein Zeugen-Avatar, gekoppelt mit einem Large Language Model, ermöglicht das Üben von Zeugenvernehmungen in einem virtuellen Gerichtssaal, bereichert die Lehre und vermittelt juristische Einblicke sowie Prompting-Skills an Studierende.
Prof. Dr. Simon J. Heetkamp, LL.M., und Max Brachtendorf
Bei der Virtual-Reality-Anwendung (VR) des „KI-Zeugen im virtuellen Gerichtssaal“ finden die Anwenderinnen und Anwender sich dank einer VR-Brille auf dem Richterstuhl in einem virtuellen Gerichtssaal, genauer in einem Gerichtssaal des Landgerichts Köln wieder. So werden sie in die Perspektive von Richterinnen und Richtern bei einer Zeugenbefragung versetzt.
Genau eine solche Zeugenbefragung führen sie dann selbst durch: Aus einer Akte zu einem fiktiven Sachverhalt müssen die Nutzerinnen und Nutzer zunächst die entscheidungserheblichen und streitigen Punkte herausarbeiten. Dann gilt es, mithilfe der Zeugenbefragung „die Wahrheit“ herauszufinden und die Akte einer Entscheidung zuzuführen. Der Zeugenavatar kann durch die Verknüpfung mit einem Großen Sprachmodell direkt in natürlicher Sprache befragt werden. Durch die Koppelung mit ChatGPT werden auf Fragen entsprechende Antworten generiert, welche der KI-Zeuge akustisch ausgibt. Bittet man den Zeugen zunächst beispielsweise darum zu erzählen, was er gesehen hat, so erläutert einem eine männliche Stimme den Tathergang aus Zeugensicht. Auf diese Weise entsteht eine authentische Befragungssituation, insbesondere können anknüpfend an bestimmte Aussagen Nachfragen gestellt oder um die Klarstellung einer bestimmten Angabe zum Sachverhalt gebeten werden.
Das Wissen zu dem Sachverhalt der jeweiligen Akte entnimmt der KI-Zeuge den sogenannten „Prompts“ (engl. für eine Eingabeaufforderung). Diese Prompts sind Angaben in einer Textdatei, durch die der KI-Zeuge zum einen Informationen über seine eigene Person erfährt, etwa sein Alter, seinen Beruf, seinen Familienstand, seine Lebensverhältnisse und sein persönliches Umfeld, aber auch Informationen dazu, weshalb er zur betreffenden Zeit am Ort des Geschehens war. Weiterhin erfährt der KI-Zeuge durch die Prompts, was er den Sachverhalt betreffend beobachten konnte, hinsichtlich welcher Beobachtungen er sich in Bezug auf seine eigene Wahrnehmung nicht sicher ist und auch, weshalb er sich an bestimmte Dinge erinnern kann (sogenannte Realkennzeichen). Angegeben wird in den Prompts ebenfalls, was gerade nicht beobachtet werden konnte und weshalb dies durch den KI-Zeugen nicht beobachtet wurde.
Bemerkenswert an der VR-Anwendung ist, dass die Prompts in der Textdatei nach entsprechender Einweisung auch durch Personen problemlos geändert werden können, die technisch nicht allzu versiert und denen Vorgänge wie etwa das Programmieren, das man an dieser Stelle für erforderlich halten könnte, eigentlich fremd sind. Das bietet gleich zwei Vorteile: Einerseits können durch eine Feinabstimmung an den Prompts für die KI bestimmte Tatsachen oder auch Angaben zur Person klargestellt werden, dadurch die Zeugenaussagen stetig verbessert und so beeinflusst werden, dass die Antworten des KI-Zeugen nicht schon feststehenden Tatsachen aus der Akte widersprechen. Andererseits – und das eröffnet Raum für zahlreiche Möglichkeiten – kann durch Änderungen der Prompts auch ein vollkommen anderer Sachverhalt mit dementsprechend anderer Akte für die Aussagen des KI-Zeugen zugrunde gelegt werden. Zudem können, wenn auch bedingt, Charaktereigenschaften vorgegeben werden, sodass der KI-Zeuge mal zurückhaltender, mal ausführlicher antwortet oder gar ungehalten wird. Der KI-Zeuge ist also wandelbar und kann, soweit entsprechende Prompts in einer Textdatei verfasst und der KI in der Anwendung zum Zugriff bereitgestellt wurden, einen Zeugen für jeden beliebigen Sachverhalt darstellen.
„Der KI-gestützte Avatar könnte auch in anderem Setting eingesetzt werden – etwa in einer simulierten mündlichen Prüfung oder in sonstigen Schulungen zur Gesprächsführung.“
Entwicklung des KI-Zeugen
Gestartet ist das Projekt im Herbst 2023 zunächst damit, dass gemeinsam mit dem Projektpartner, einem Kölner Start-up-Unternehmen, welches auf dem Gebiet der VR-Technologie tätig ist, besprochen wurde, wie eine virtuelle Zeugenbefragung aussehen könnte und was insoweit überhaupt technisch realisierbar ist. Anschließend musste ein passender erster Sachverhalt erdacht werden, anhand dessen der KI-Zeuge ausgerichtet und weiterentwickelt werden konnte. Hier ist die Wahl auf einen Verkehrsunfall gefallen, der sowohl als lebensnaher Sachverhalt geeignet erschien, als auch räumlich in Form der Prompts gut beschrieben werden konnte. Entwickelt wurde durch den Projektpartner zunächst eine Version, bei welcher dem KI-Zeugen schriftlich durch Texteingabe Fragen gestellt werden konnten. Bereits bei dem ersten Entwicklungsschritt konnten schon einige Schwierigkeiten bei der Arbeit mit ChatGPT festgestellt und später dann auch behoben werden. Beispielsweise musste bei der Erstellung der Prompts darauf geachtet werden, dass diese nur das vorgesehene Zeugenwissen enthielten und nicht den gesamten Sachverhalt, weil durch die wahrscheinlichkeitsbasierte Funktionsweise von ChatGPT der KI-Zeuge andernfalls Angaben zum Sachverhalt gemacht hat, die er nach dem zugrunde liegenden Sachverhalt schlechterdings nicht beobachtet haben konnte. Auch mussten die Prompts tunlichst in der zweiten Person Singular verfasst werden, damit der KI-Zeuge sich die Angaben zu eigen macht. Zu Beginn kam es noch häufiger zu klar falschen Aussagen des KI-Zeugen.
In der darauffolgenden Version konnten einige dieser Probleme schon ausgeräumt werden, vor allem aber wurden zwei Weiterentwicklungen realisiert. Der Zeuge konnte in ein virtuelles 3-D-Modell eines Gerichtssaals im LG Köln integriert werden, das bereits in einem vorangegangenen Projekt durch Studierende der TH Köln entworfen worden war. Außerdem konnte der KI-Zeuge jetzt „zum Leben erweckt“ werden, denn es bestand nun die Möglichkeit, dem KI-Zeugen durch Spracheingabe Fragen zu stellen, und die Antworten des Zeugen wurden nun ebenso akustisch ausgegeben. In einer weiteren Version konnten auch einige Eigenheiten des KI-Zeugen-Avatars ausgeräumt werden. Zu erwähnen ist hier unter anderem, dass sich der Zeuge in der vorherigen Version bei der Befragung noch häufig dem Fenster statt der Richterbank zuwandte. Dem KI-Zeugen wurde im Zuge dessen auch eine KI-Zeugin mit weiblichem Avatar samt Stimme als Wahlalternative zur Seite gestellt.
Außerdem begann die Arbeit an den Aussagen des KI-Zeugen. Zum einen musste die Länge der gegebenen Antworten angepasst werden, denn zu Beginn gab der KI-Zeuge derart ausführliche und präzise Antworten, wie sie Zeuginnen oder Zeugen in der Praxis wohl (leider) kaum äußern dürften. Durch entsprechende Prompts konnten die Aussagen gekürzt werden. Eine Textbox bot zudem die Möglichkeit zu überprüfen, ob die gestellte Frage durch die Spracheingabe überhaupt korrekt erfasst wurde, und ermöglichte auch, die Aussagen des KI-Zeugen noch einmal mitzulesen. Durch einige Testläufe mit Studierenden und Praktikern konnten wertvolle Erfahrungen für die Erstellung der Prompts für KI-Zeugenprofile in weiteren Sachverhalten gesammelt werden, sodass die Aussagen des KI-Zeugen sich stetig verbessern und immer mehr überzeugen können.
Anwendungsmöglichkeiten für Lehre und Ausbildung
Die VR-Anwendung eignet sich besonders zur Veranschaulichung und Übung des Ablaufes einer Zeugenvernehmung für Studierende oder Referendarinnen und Referendare im juristischen Vorbereitungsdienst. Potenziell kommt aber auch ein Einsatz in der beruflichen Aus-/Weiterbildung in der Anwaltschaft oder für sonstige, im Justizwesen eingesetzte Personen (etwa Laienrichter) in Betracht. Auch eine Verwendung in der allgemeinen Erwachsenenbildung (etwa Volkshochschulen) oder in schulischen Rechtskunde- AG wäre zu erwägen. Ein besonderer Vorteil bei der Nutzung im juristischen Vorbereitungsdienst ist, dass mit überschaubarem Aufwand verschiedenste Sachverhalte, in welchen eine Zeugin bzw. ein Zeuge vorkommen,für eine virtuelle Befragung genutzt werden können und so auch mit realen (ggf. anonymisierten) Akten gearbeitet und die Befragung anschließend mit dem Ausbilder oder der Ausbilderin evaluiert werden können. Der KI-Zeuge ist ein vielversprechendes Beispiel dafür, wie Virtual Reality und KI Einzug in die juristische Ausbildung halten können.
Fazit und Ausblick
Das hier vorgestellte Lehrprojekt des KI-Zeugen wurde im Rahmen des Projekts REDiEE („Roll-out, Empowerment, Design in Engineering Education“) über die Förderlinie „Hochschule durch Digitalisierung stärken“ von der Stiftung Innovation in der Hochschullehre gefördert. REDiEE fördert die Entwicklung hybrider Lehr- und Lernsettings an der TH Köln, welche Future Skills und fachliche Expertise verknüpfen, um das Profil der Absolventinnen und Absolventen zu stärken. Mit den bereitgestellten Mitteln konnten zum einen eine externe VR-Firma beauftragt und zum anderen Hilfskräfte mit juristischer Expertise zur Umsetzung gewonnen werden. Es bieten sich mannigfaltige Weiterentwicklungsmöglichkeiten etwa könnte die Anwendung um einen „Multiplayer-Modus“ ergänzt werden, in dem weitere Beteiligte im Gerichtsverfahren (etwa Anwältinnen oder Anwälte) eingebunden werden. Auch könnte der KI-Zeuge im Hinblick auf Gestik, Mimik und Stimmmodalität weiterentwickelt werden.
Schon jetzt bietet die Anwendung einen großen Anwendungsbereich – von der Hochschullehre über die Ausbildung von Rechtsreferendarinnen und -referendaren bis hin zu Weiterbildungen in der Anwaltschaft ist manches denkbar. Auch könnte der KI-gestützte Avatar in anderem Setting eingesetzt werden – etwa in einer simulierten mündlichen Prüfung oder sonstigen Schulungen zur Gesprächsführung. Klar ist: Die kombinierte KI- und VR-Anwendung wird in Zukunft aus der Aus- und Weiterbildung nicht mehr wegzudenken sein!
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