Der Sitzplatz wirkt sich auf die Lernleistung aus – das zeigt eine Studie der Universität Tübingen in einem virtuellen Klassenzimmer
Schülerinnen und Schüler lernen nicht auf jedem Platz im Klassenzimmer gleich gut: Eine Tübinger Studie zeigt erstmals, dass Schülerinnen und Schüler mehr lernen, wenn sie nahe bei der Lehrkraft und nicht in der letzten Reihe des Klassenzimmers sitzen. Das gilt für alle Schulkinder gleichermaßen und es gibt keinen stärkeren Effekt bei Kindern mit Schwierigkeiten bei der Selbstregulation von Aufmerksamkeit und Verhalten. Die Forscherinnen und Forscher der Graduiertenschule und des For-schungsnetzwerkes LEAD an der Universität Tübingen nutzten ein für die Studie eigens programmiertes virtuelles Klassenzimmer. Alle Kinder erlebten darin mittels Virtual Reality (VR-) Brillen die exakt gleiche Unterrichtssituation: entweder von einem Sitzplatz nahe bei der Lehrkraft oder in der letzten Reihe. Die Studie wurde in der Zeitschrift Learning and Instruction veröffentlicht.
Die Ergebnisse dieser experimentellen Untersuchung zeigen, dass die Nähe zur Lehrkraft einen Unterschied für den Lernerfolg von Schülerinnen und Schülern machen kann. „Nach der gemeinsamen Mathematikstunde im Virtuellen Klassenzimmer lösten die Schülerinnen und Schüler der vorderen Sitzreihen Mathematikaufgaben schneller als die der hinteren Reihe“, sagt Erstautorin Friederike Blume, die im Bereich Schulpsychologie forscht. „Wichtig ist nun, zu überlegen, wie in einem echten Klassenzimmer alle Kinder gleichermaßen von der Nähe zur Lehrkraft profitieren können.“ Dies könne beispielsweise erreicht werden, indem sich die Lehrkraft während des Unterrichts im Klassenraum bewege oder die Sitzposition der Schülerinnen und Schüler während eines Schuljahres regelmäßig wechsle.
Die Studie mache außerdem deutlich, dass alle Schülerinnen und Schüler gleichermaßen profitieren; bei Kindern mit Selbstregulationsschwierigkeiten gab es – anders als erwartet – keinen stärkeren Effekt. „Diese Kinder benötigen weitere Unterstützung, wie gezielte Ansprache, um ihnen das Lernen zu erleichtern. Dieser Aspekt sollte in den existierenden Empfehlungen für Lehrkräfte betont werden“, so Blume.
Insgesamt 81 Jungen und Mädchen aus fünften und sechsten Klassen, vornehmlich von Gymnasien, nahmen an der Studie teil. Mittels virtueller Realität wurde eine typische Klassensituation geschaffen, in die die Schülerinnen und Schüler mithilfe einer VR-Brille eintauchten. Sie wurden zufällig auf Plätze in der ersten Reihe, nahe bei der Lehrkraft oder in der hinteren Reihe verteilt. Dabei hatten sie virtuelle Mitschülerinnen und Mitschüler im Blick, die ab und zu den Unterricht störten, indem sie flüsterten oder sich umdrehten. In der virtuellen Lernsituation erklärte die Lehrkraft eine Lösungsstrategie für eine Mathematikaufgabe. Im Anschluss sollten die Schülerinnen und Schüler in einem Test zeigen, ob sie diese Inhalte verstanden hatten. Die Jungen und Mädchen, die in der Nähe der Lehrkraft saßen, konnten die Aufgaben deutlich schneller lösen. Das lässt den Schluss zu, dass sie den Unterricht aufmerksamer verfolgt und einen größeren Lernerfolg hatten als diejenigen, die in der letzten Reihe saßen.
In zukünftigen Studien am Arbeitsbereich Schulpsychologie soll im virtuellen Klassenzimmer unter-sucht werden, welche Unterstützungsmaßnahmen den Kindern helfen, sich weniger ablenken zu lassen oder ihre Aufmerksamkeit zu steuern. Dabei sollen auch Blickbewegungen oder die Hirnakti-vität erfasst werden, was in realen Versuchsanordnungen nur schwer möglich wäre. Der Bildungs-forscher und Mitautor Richard Göllner möchte vor allem weitere Klassenzimmerszenarien in den Blick nehmen: „Wir werden die Bedeutung anderer Unterrichtsabläufe und -bedingungen für das Lernen von Schülerinnen und Schülern untersuchen: Beispielsweise das Verhalten von Mitschülerinnen und Mitschülern oder die didaktischen Methoden einer Lehrerin oder eines Lehrers .“ Es sei sehr aufwändig Experimente solcher Art in realen Schulklassen durchzuführen, mit virtuellen Umwelten könne man unterschiedliche Einflussgrößen dagegen systematisch und unkompliziert betrachten. „Auf welche Weise komplexere Klassenzimmerszenarien in einer virtuellen Umgebung am besten umgesetzt werden können, ist daher ein weiteres wichtiges Ziel unserer Arbeit“, so Göllner.
Quelle:
https://idw-online.de/de/news709417